Das Buch “Einhüllende Materialitäten. Eine Phänomenologie des Wahrnehmens und Handelns an Bahnhöfen und Fährterminals” stellt für mich eines der innovativsten Projekte dar, dass mir in der letzten Zeit untergekommen ist. Erschienen ist es 2007 im Bielefelder Transcript Verlag. Möglicherweise gibt es in anderen Geisteswissenschaften vergleichbare Studien, mir ist jedenfalls für die Soziologie nichts ähnliches bekannt. Streng genommen interessiert sich die Soziologie (Pauschalisierung) i.d.R. nicht für die physische Umwelt. Sie ist ihr ein Äußeres, das zwar gelegentlich als störender Einflußfaktor vorkommt, aber an sich liegt die Beschaffenheit der Umwelt außerhalb des Gegenstandbereiches (oder eher: des Interesses) der Soziologie. Wie die Sphinx kann sie gleichweg auf welche Frage nur die Antwort geben: Es ist der Mensch. Selbst bei Stadt, Architektur und Landschaft wird in den seltensten Fällen die Beschaffenheit der Dinge als Variable eingeplant.

Wie weit es sich bei der Interaktion mot der “dinglich-räumlichen Welt” überhaupt um eine soziale Interaktion nach Max Weber handelt, fragt sich Frers (S.268).
[Gedankennotiz an mich: ließe sich für diese Frage anhand der Interaktion Mensch-Cyborg ein Umschlagpunkt feststellen, an dem dem Gegenstand menschliche/soziale Eigenschaften zuerkannt werden? Wäre erst dann der Tatbestand “soziale Interaktion” erreicht?] und untersucht u.a. das Verhalten in und mit Drehtüren sowie an Fahrkartenautomaten. Frers schreibt dazu: “Dabei interessiert mich nicht bloss der sich um die Menschen herum aufspannende Raum in seiner Höhe, Breite und Tiefe. Mit Materialität meine ich eben auch die Beschaffenheit von Ober?ächen, die Härte verwendeter Materialien, die abblätternde Farbe an einer Wand, die Beweglichkeit einer Drehtür und vieles mehr.”
Eben die materielle Beschaffenheit nicht als bloße Widerspiegelung der sozialen Verhältnisse zu betrachten, sondern sich auf die Auswirkungen des Materials einzulassen. Dazu bedient er sich der Aufzeichnung und Auswertungen von Videos per Analyse. Neben bewegten Bildern zeichnet er ebenso – das wird auch zumeist kein Forschungsgegenstand der Geisteswissenschaften – Töne im Alltag auf. Gerade diese Aufmerksamkeit für Details finde ich genial: “Das plötzliche Knatschen von Gummisohlen beim Wechsel von einem Teppichboden zu einem gebohnertern Boden…”.
Lars Frers lässt sich auf die Sinneseindrücke ein: Wahrnehmung nicht nur als Sehen, sondern auch Hören, Riechen, Schmecken. Es ist spannend nachzuvollziehen, wie Wahrnehmung nicht nur theoretisch beschrieben, sondern so empirisch erfasst wird. Lars Frers fasst die Ordnung in den beobachteten Orten mit dem Begriff Hülle, die er als “spezifische sozial-räumliche-materielle Konstellation” beschreibt. Diese wirken normalisiert. Im Unterschied zu der Untersuchung der Autoren Aldo Legnaro und Almut Birenheide “Stätten der späten Moderne”, die explzit nach den von Marc Augé beschriebenen Nicht-Orten suchen und diese auch finden, ist die Wertung von Frers nicht ganz so pessimistisch: Der disziplinierende Effekt der Ordnung der Räume “produziert also nicht eine völlig homogene Normalität”.

Nicht nur die Art der Darstellung – die Arbeit ist durchweg flüssig geschrieben – gerade die Methodologie ist gut. Der Autor beschreibt nicht nur sehr ansprechend seine Forschungsergebnisse; nebenbei legt er den Arbeits- und Entstehungsprozess der eigenen Studie offen. Notizen aus dem Feldtagebuch etwa, die die Forschung transparent machen. Außerdem sind die Videos, die im Buch ausgewertet werden, auf der Homepage des Autors dokumentiert. Im Gegensatz zu manch zweifelhaften Methoden der Feldforschung ist diese Methode nicht nur innovativ, sondern aussagekräftig hinsichtlich der Interaktion Mensch-Maschine.
Fazit: Mich hat diese Arbeit wirklich inspiriert. Lars Frers schafft es überzeugend diese Orte zu untersuchen und aus der Beobachtung der direkten Interaktion der Handelnden und ihrer Umwelt seine ganz eigene Perspektive zu entwickeln.