Unvollständige Notizen. Die Debatte um Überwachung der letzten 10 Jahre greift zumeist zu kurz. Bestes Beispiel ist die Beschäftigung mit der zunehmenden Überwachung des öffentlichen Raumes durch Kameras. Abgesehen von der Grundannahme, wobei der Verlust von öffentlichem Raum zugunsten von privatem Eigentum bedauert wird, wird hier Herrschaft gedacht als Repression: da sitzt ein Security-Mann hinter der Kamera, der auch real Gewalt per Schlagstock und Hausrecht ausüben könnte, und diese Überwachung führt dann zu einer Änderung des Verhaltens der Überwachten. Oder es wird die Tatsache skandalisiert, dass jemand Zugang zu technischen Mitteln hat, während die Passantinnen und Passanten diesem Technikeinsatz passiv ausgesetzt sind. So beschränken sich Initiativen zur Kameraüberwachung darauf, akribisch Kameras im Stadtraum zu zählen.
[…]
Vielleicht würde aber Kontrollgesellschaft (Deleuze) heissen, dass die Macht sich so verflüssigt hat, dass sie sich zwar auch in Form der beschriebenen Kameraüberwachung äußert, dies aber nicht ihre Essenz ausmacht. Wahrscheinlich ist die krasseste Form der Kameraüberwachung, das “public shaming” (die direkte Ermahnung bei einem Ordnungsübertritt durch einen Überwacher) näher am mittelalterlichen Pranger zu verorten als in der Kontrollgesellschaft des 21. Jahrhunderts. Anscheinend vertraut man doch nicht so sehr dem selbstverwalteten Subjekt, wenn es per Lautsprecher angebellt und zur Disziplin ermahnt werden muss. Das Verfahren erscheint weniger als Ausdruck eines neuen Paradigmas sondern schlicht als abscheulich dumm.
[…]
Aber nicht die Widersprüchlichkeit, die Artefakte der Disziplinargesellschaft hier, sondern die Ausweitung der Kontrolle auf alle ist das Entscheidende.
Die Technik hat sich schließlich so weit verbreitet, dass in jedem Mobiltelefon eine Kamera installiert ist und die digitale Fotografie einen riesigen Verbreitungsgrad erreicht hat. Bewegte und stehende Bilder aufzunehmen ist eine Freizeitaktivität, die nahezu überall angetroffen werden kann. Soziale Exklusion ist das sicher nicht, denn hier darf wirklich jede und jeder mitmachen. Eine Demokratisierung über die Partizipation an Konsumgütern? Wohl kaum. Subversionspotentiale durch die massenhafte Verbreitung von technischen Geräten? Möglicherweise gibt es diese, aber vielleicht ist wichtiger, dass die Kontrolltechnik in der Hand aller liegt. Macht wirkt nicht unterdrückend, sie kanalisiert das Begehren in Dabeisein und Mitmachen.
[…]
Jeder darf zum Datensammler oder zur Datensammlerin werden und digitale Daten aufzeichnen, zu Hause speichern oder auf Fotoportalen veröffentlichen. Im obigen Beispiel mit der Überwachungskamera von privaten Eigentümer wird ja häufig kritisiert, dass die Produktion der Aufzeichnung nicht-öffentlich sei, dass nicht klar sei, was genau aufgezeichnet würde und was mit den Daten passiere. Dass die Datensammlung nicht-öffentlich abläuft und sich der Kontrolle durch die Öffentlichkeit entzieht. Datenschutz heisst Datensicherheit. Der auf flickr eingestellte Schnappschuss eines Ausflugs torpediert diese Argumentation. Denn es kann öffentlich nachvollzogen werden, welche Daten aufgezeichnet wurden. Aber das ist dann auch nicht recht – denn jetzt sind ja Daten von Personen einzusehen… und es könnten ja Dritte, die zufällig vor Ort waren, ohne deren Wissen abgelichtet worden sein.
Wahrscheinlich hat das langfristig einen wesentlich größeren Einfluß auf die Selbstdisziplinierung der Subjekte. Irgendwann wird sich herumgesprochen haben, dass man in unvorteilhaften Situation medial festgehalten auf Youtube landen kann. Unfreiwilliges Verhalten dieser Art kann also leicht in einer schamhaft besetzten Situation und der Bloßstellung enden (wobei dieses Risiko immer in der Öffentlichkeit besteht. Der öffentliche Raum ist ungleich dem vor fremden Blicken geschützten, privaten Wohnzimmer).
Die konkrete Drohung umfasst die Reproduzierbarkeit des Augenblicks. Der Moment vergeht mit der Aufzeichnung nicht und nur die Anwesenden haben ihn erfahren, er kann vielmehr medial aufgezeichnet, beliebig multipliziert und unendlich vielen Zuschauerinnen und Zuschauer gezeigt werden. Die Drohkulisse umfasst Publikum, Gedächtnis, und die Macht ein öffentliches Bild einer Person zu erzeugen (weniger: über es zu verfügen). Auch hier bleibt Macht noch repressiv wie der Pranger. Der alte DIY-Slogan “Everybody can be a star” wird zu einer Drohung: zweifelhafter Ruhm und Aufmerksamkeit wider Willen.
Umgekehrt gibt es auch das entgegengesetzte Phänomen – das Inszenieren und das Veröffentlichen von Tabubrüchen. Etwa mit dem Skateboard auf der Autobahn fahren, chauvinistische Meinungen über Frauen und Analverkehr ausbreiten, Leute vor laufender Kamera verprügeln etc.
[…]