Popkultur ist Atommüll. Einmal in die Welt gesetzt, ist die Halbwertszeit kulturindustrieller Produkter länger als die von Uran. Bei Popsongs ist das schon schlimm. Noch schlimmer ist das allerdings bei Werbespots. Noch heute kann ich Werbemelodien aus den 1980er Jahren mühelos mit mir selbst mitpfeifen für Produkte, die es längst nicht mehr gibt, von Firmen, die es teilweise auch nicht mehr gibt. Toll ist das nicht, und ich vermute, dass ich nicht der einzige Betroffene bin.
Weniger die Verseuchung der Umwelt als die mentale Verschmutzung machen mir Sorgen. Denn im Unterschied zu Tschernobyl kann ich nämlich nicht bestimmte Bereiche meines Gehirns einfach abriegeln lassen. Ein “Betreten verboten” Schild davor aufgestellt – Problem gelöst. Wenn es denn so einfach wäre! Einmal in mein Hirn gepflanzt, drehen dort die Artefakte der Werbung für immer ihre Runden;
schön auswendig gelernt durch penetrante Wiederholung. Ich kann nur froh sein, wenn irgendwann die Demenz einsetzt und mich von diesen Erinnerungen erlöst, bevor ich den gewöhnlichen Zustand alter Menschen erreiche: Nämlich ständig über ihre Kindheitserinnerungen reden. Denn dann würde ich vermutlich über die tollen Späße der Protagonisten in den Werbespots der Synthetik-Milch aus Franken, dem weiß-gekleideten Quatsch von Kaugummis und Synthetik-Eis aus irgendwo sowie Kapriolen von und mit diversen Schnäpseherstellern erzählen (wo der Vogel mit Schnapsbuddel in den Klauen über eine Klippe fliegt mit Teutonenen-Musik dazu). Oder Günther Strack! Solche Gestalten des deutschen Unterhaltungsbetriebs sollte man eigentlich nachträglich noch ausgraben (nein, das ist nicht metaphorisch gemeint) und ihre Leiche schänden – nur so als kleine Wiedergutmachung.
Das Problem mit der ständigen Wiederholung des einen Inhaltes werden nachfolgende Generationen in dieser Form nicht mehr haben, denn Werbung wird heute quantitativ viel mehr, viel kurzlebiger und pluralisiert sich: die altbekannte Methode, durch bloße Penetranz die Inhalte in die Hirne der Konsumenten zu dreschen, verfeinert sich. Die klassischen Kampagnen für Massenprodukte werden ergänzt um virale Marketingmaßnahmen und damit wird die Werbung revolutionär vom festgelegten Ort der Werbetafel heruntergestoßen. Wo vorher klar zwischen Werbung und Nicht-Werbung unterschieden wurde, löst sich auch diese Grenzziehung im postfordistischen Arrangement auf. Die Trennung der Sphären des Lebens – dort Freizeit, hier Arbeit; dort Werbung, hier Privatheit – hier wird sie eingerissen.
Resultat: Werbung wird entgrenzt und findet künftig in allen Bereichen des Lebens statt. Sie kann und könnte überall sein. Ich frage mich bis heute, ob ein Harvard Professor von einer Vodka-Marke gekauft wurde, weil er in seinem Vortrag zum “Digitalen Vergessen” penetrant den Namen einer Vodka-Marke einbaute mit einem unglaublich dümmlichen, fiktiven Dialog dazu (“Sag mal, wie hiess der gute Vodka, den wir gestern abend getrunken haben?”). Die Paranoia wird zum ständigen Begleiter, denn überall könnte der Verkauf lauern. So wie der flüchtige Bekannte, den man seit Jahren nicht gesehen hat und den man zufällig trifft, und der einem prompt eine Versicherung aufschwatzen will.
Wie man auf das virale Konzept hereinfällt, zeigt das Beispiel eines Hardwareanbieters, der sein Produkt mit Hilfe einer Street Art-Kampagne bewirbt. Die Entrüstung in der Street Art-Community ist groß und so wird das Produkt und die Kampagne auf jedem Vortrag über Street Art breit rezipiert und breit darüber geredet. Genauso geht virales Marketing, denn letztenendes füttert jede Äußerung die Sucheinträge auf Google, getreu der Logik, dass es keine schlechten Nachrichten gibt. Die Verseuchung wird kleinteiliger und diffundiert in alle Teile der Gesellschaft, inklusive der zwischenmenschlichen Beziehungen. Schließlich gilt Werbung als weniger toxisch, wenn sie von einem Freund oder einer Freundin vermittelt wird.
Und jede Kritik, die sich heute an Werbung 1.0 abarbeitet, ist nicht nur gänzlich antiquiert, sondern verpasst ihren Gegenstand. So in etwa: “Was, wenn diese Theoretiker sich so sehr darauf versteift haben, die Überreste einer vergangenen Herrschaftsform zu bekämpfen, dass sie die neue Form, die bereits über ihnen aufscheint, nicht erkennen? […] Dieser neue Feind ist nämlich nicht nur gegenüber den alten Waffen resistent, er gedeiht geradezu auf ihnen und schließt sich somit seinen Möchtegern-Gegenspielern an, indem er deren Waffen in vollem Maße anwendet. Lang lebe die Differenz! Nieder mit den essentialistischen Binärcodes!” (Negri/ Hardt – Empire, S.150f).
Gerade da, wo Werbeplakate als Wurzel allen Übels herhalten müssen und per Subvertising und Ad Busting übermalt werden, wird es völlig übel. Ganz idealistisch wird dann die Übertreibung, das übertreten der Regel kritisiert – wo dadurch nur eine Vorstellung von Normalität zementiert wird. Und vor allem die Warenproduktion völlig übersehen wird. Dann landet man bei der verruchten Zirkulation und natürlich steckt jemand dahinter, der einem bewußt Böses will (Gegenfrage: wer kauft denn den ganzen Schrott, der da beworben wird?). Den Charakter der scheinhaften Verhältnisse – nämlich sowohl Ausdruck der reelen materiellen Verhältnisse sowie deren falscher Ausdruck zu sein, erfasst man so nicht.
Aber was würden aktionsorientierte Leute auch heute machen? Youtube in die Fresse hauen? Eine Freundin verprügeln, weil sie von einer neu gekauften Jacke erzählt? Da sind die Chefdenker aus den Werbeaagenturen schon weiter. Die registrieren nämlich, dass “social marketing” das Prinzip am Puls der Zeit ist. Werbung soll direkt auf den sozialen Beziehungen ansetzen, schließlich wird nur das gekauft, was im direkten persönlichen Umfeld als angesagt gilt. Und warum müssen die Werbfuzzis das machen? Weil es das Phänomen der Werberesistenz gibt. Immer mehr Werbung bedeutet, dass immer weniger Werbung wahrgenommen wird. Und das stellt ein echtes Problem dar für Leute, die mit Reklame ihr Geld verdienen. Was aber bedeutet, dass es für den einzelnen Werbeproduzenten die rationalsten Strategie darstellt, immer mehr Werbung zu produzieren, um den negativen Effekt des sinkenden Interesses pro Werbespot zu kompensieren. Und das zu Ende gedacht würde bedeuten, dass es irgendwann so viel Werbung gibt, dass diese überhaupt nicht mehr wahrgenommen wird. Vielleicht wäre dies ja auch die Lösung meines eingangs geschilderten Problems. Wenn die Differenz zwischen verseucht und nicht-verseucht fällt, weil es kein außerhalb zum Kosmos der Werbung mehr gibt, müßte auch das Wissen über das Beschädigtsein fallen. Insofern hatten sowohl Adorno als auch Negri/Hardt auch unrecht, denn die Totalität ist noch nicht total genug.